Manfred Casper
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Wozu noch einen
“Tag der Deutschen Einheit”?
Schwindet die deutsche Teilung aus dem kollektiven Gedächtnis?
Braunschweiger Zeitung, 4.Oktober.2022
Am 17. Juni 1953 kam es in der DDR, diesem so anderen und den Westdeutschen über die Jahrzehnte immer fremder gewordenen deutschen Staat im Osten zu einem Volksaufstand. Die DDR-Bürger waren der hohen Normen in der Wirtschaft, der kommunistischen Gängelung und Bevormundung sowie der Gleichschaltung aller Medien überdrüssig und sie erkannten, daß die begonnene Verstaatlichung allen Privateigentums wirtschaftlich in die falsche Richtung führte. Mit Panzern kam der „große Bruder“ Sowjetunion und schlug den Aufstand nieder, wie er auch 1956 in Ungarn einen ähnlichen Aufstand und 1968 in der CSSR den „Prager Frühling“ mit Panzern niederwalzte. Im Sinne damaliger Erinnerungskultur wurde im August 1953 dieses Datum, der 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag erklärt, bestärkt durch die nachwirkende Betroffenheit infolge der Brutalität und Rücksichtslosigkeit der Sowjets.
Über die Jahre verblaßte dieses Datum und nur noch ältere Zeitzeugen konnten mit dem Feiertag etwas anfangen, jüngere hatten den Bezug verloren. Als dann 1989 diese so völlig andere DDR durch den unermesslichen Mut ihrer Bürger und durch die friedliche Revolution zerfiel, wollten viele sofort reflexhaft die über 40 Jahre getrennten deutschen Staaten wiedervereinigt sehen. Nur wenige Monate und die Entscheidung mit mehr oder weniger wohlwollender Billigung der alliierten Siegermächte war gefallen, Deutschland war wieder ein einheitlicher Staat! Sicher, einige DDRBürger hätten sich eine andere Entwicklung gewünscht und lieber das Ziel eines „wahrhaft demokratischen Sozialismus“ verfolgt. Auch gibt es bis heut viele, die nostalgisch betonen: „War doch nicht alles schlecht in der DDR“. Ob aus Opportunismus, verklärter Erinnerung oder sozialistischer Überzeugung sei dahingestellt. Deren Sicht und Meinung gilt es im Spektrum demokratischer Toleranz zu akzeptieren, auch wenn am Ende die Mächtigen wie Kanzler Kohl, Michael Gorbatschow oder Georg Bush bereits die Weichen in Richtung Wiedervereinigung gestellt hatten.
Was hatte es andererseits nicht für Verwerfungen, Spannungen und Konfrontationen in diesen 40 Jahren der Teilung gegeben, als Zeitraum dreieinhalb Mal so lang wie die furchtbare Nazi-Diktatur! Deutschland hatte sich zum Pulverfaß inmitten der bipolaren Welt des „Kalten Krieges“ entwickelt, mit unzähligen Atomsprengköpfen in den Bunkern der Bundesrepublik und der DDR. Der Mauerbau 1961, die Konfrontation der Amerikaner mit den Sowjets in Berlin Oktober 1961 wegen der Behinderung amerikanischer Patrouillen nach Ost-Berlin durch die Sowjets, die Cuba-Krise, die Zerschlagung des „Prager Frühlings“ … Nicht wenige Ereignisse, die uns damals mit der ernsten Frage nach einem Dritten Weltkrieg konfrontierten. Er wäre wohl ein Atomkrieg geworden! Und dann die zahlreichen Opfer an der Mauer und der innerdeutschen Grenze, Menschen, die aus der DDR flüchten und frei sein wollten: Erschossen, von Minen zerrissen oder verstümmelt, in der Elbe oder Ostsee ertrunken oder inhaftiert, wenn sie überlebten. All dies hatte einen Nachhall, als nach den tränenreichen Szenen infolge des Mauerfalls und der Grenzöffnung sich Ost und West im November 1989 in den Armen lagen. Ergebnis dieses Nachhalls war nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 die Abwägung, ob der bis dahin als deutscher Nationalfeiertag gepflegte 17. Juni nun vom Tag Einheit, dem 3. Oktober abgelöst werden sollte.
Auch dies wurde umgesetzt!
Schauen wir nach Frankreich, wird jeder Schüler und jede Schülerin den 14. Juli als Nationalfeiertag im Rahmen der nationalen Erinnerungskultur identifizieren und zuordnen können, ebenso wie in den USA den 4. Juli als Unabhängigkeitstag. Sie spielen im Selbstverständnis der dortigen Bildungssysteme eine bedeutende historische Rolle, sie bieten Identifikation mit der nationalen Geschichte! Und bei uns? Bis zur „Wende“ war in der 11. Klasse der Gymnasien ein Systemvergleich Bundesrepublik – DDR verbindlich. Und heut? Sicher, die deutsche Teilung ist grundsätzlich noch als Lehrinhalt vorgesehen, aber im Kanon der Angebote eher marginalisiert. Stehe ich als Zeitzeuge zur deutsch-deutschen Geschichte vor deutschen Oberstufenklassen, geht kein Finger mehr hoch, wenn ich frage, was am 13. 8.1961 geschah, dem Tag des Mauerbaus. Auch wenn sich historisches Wissen nicht primär an Daten festmachen läßt, so ist aber leider genau so wenig Wissen über strukturelle Zusammenhänge der früheren DDR vorhanden. Was bedeutet es, wenn in einem Wirtschaftsbetrieb nicht das Management den Kurs bestimmt, sondern der Parteisekretär? Was bedeutet es, wenn nach der Lehre des „wissenschaftlichen Sozialismus“ eine moralisierende Diktatur einen neuen sozialistischen Menschen entwickeln soll? Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn Menschen sich nicht mehr trauen, offen ihre Meinung zu sagen, aus Sorge, sanktioniert zu werden? Immerhin werde ich noch eingeladen zu berichten von meinen Erfahrungen und Erlebnissen in der DDR und wenn man die jungen Menschen vor sich hat, gelingt es auch, sie zu packen und mitzunehmen auf eine Zeitreise in die jüngere deutsche Geschichte. Warum aber wird diese im nationalen Kontext historisch bedeutsame Zeit auch in der öffentlichen Debatte so vernachlässigt? Wie oft höre ich: „Das interessiert doch keinen Menschen mehr!“ Wirklich nicht? Oder ist es unbequem geworden, sich mit historischem Versagen zu befassen? Nach dem gescheiterten grausamen Nationalsozialismus nun auch noch der real existierte Sozialismus? Gewiß wird es 2022 wieder eine zentrale Veranstaltung in Erinnerung an die Wiedervereinigung geben, vielleicht auch wieder ein wenig Pathos als Alibi. Glauben wir aber Henry Kissinger, wenn er in seinem neuesten Buch sagt: „Die Geschichte ist und bleibt eine unerbittliche Lehrmeisterin“, dann verbindet sich damit die Erkenntnis, daß wir nur aus der Geschichte lernen können. Die Zukunft können wir prognostizieren, planen und visionär entwickeln; aber was wirklich kommt, wissen wir nicht. Insofern wären auch die zahlreichen Politikberater und Politiker, die uns die Welt erklären und uns in die Zukunft führen wollen gut beraten, ab und zu in die Geschichte zu blicken, um aus ihr zu lernen. Stattdessen präsentierten sie uns Begriffe wie die „Friedensdividende“ und gaukelten uns eine friedliche Scheinwelt vor. Bis zum 22. Februar 2022 und dem Überfall Rußlands auf die Ukraine! Und auch hier wieder der untaugliche Versuch, den weiteren Verlauf dieses grausamen Kriege „vom Ende her zu denken“, wie kürzlich Herr Kühnert von der SPD im Interview mit Frau Slomka vom „Heute Journal“. Vielleicht lehrte der Blick in die Geschichte mehr Pragmatismus und Zielorientierung für die Zukunft, in einer Zeit, in der wir vor lauter politischer Überraschungen nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Nicht nur exorbitant steigende Energiepreise und eine drohende wirtschaftliche Rezession können ein Land schädigen – vielleicht auch die abnehmende Identifikation mit seiner eigenen komplexen Geschichte!